Topographie des Terrors

Aufschreiben, um sich seiner selbst und der eigenen Position gewahr zu werden. Das habe ich nach dem Besuch in der Berliner Topographie des Terrors gemacht. Denn die Dokumentation über die zentralen Schaltstellen nationalsozialistischen Terrors ist harter Stoff in jeder Hinsicht.

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Ich lasse mich von der Bedeutungshaftigkeit vor dem Schreiben beinah lähmen. Aber nur beinah. Denn: Die Topographie des Terrors, da muss jedes Wort sitzen, das ist ein ernsthaftes Thema. Stimmt vollkommen, ist ernsthaft. Soll mich aber nicht am Schreiben hindern. Zumal ich auf unerwartetem Wege zum Besuch der Dauerausstellung und einer sehr guten, englischsprachigen Führung kam. Mein türkisches studentisches „Patenkind“ von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) hatte in ihrem Cultural Lectures-Kursus davon gehört. Auch ich war noch nie in der 2010 eröffneten Ausstellung, obwohl ich ständig am Abgeordnetenhaus vorbeifahre.

Also gingen wir hin, zum Sightseeing der anderen Art. Zufälligerweise, passenderweise, am 27. Januar, am internationalen Holocaust-Gedenktag, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Warum in Israel ein anderer Gedenktag, nämlich der Tag des Aufstandes im Warschauer Ghetto, begangen wird, erklärt übrigens Frau Lila in ihren Letters from Rungholt.

Jan-Paul Hartmann, den jungen Historiker, der die Führung leitete, muss ich erwähnen. Er hat der bunt gemischten Truppe, die naturgemäß aus vielen Berlin-Besuchern von Sonstwoher bestand, sehr anschaulich und verständlich erzählt, was auf diesem Gelände früher geschah. An der heutigen Niederkirchner Straße 8, die als Prinz-Albrecht-Straße mitten im politischen Zentrum nationalsozialistischer Politik, Macht- und Gewaltausübung stand, befanden sich von 1933 bis 1945 die wichtigsten Zentralen des nationalsozialistischen Terrors: das Geheime Staatspolizeiamt mit eigenem „Hausgefängnis”, die Reichsführung-SS und während des Zweiten Weltkriegs auch das Reichssicherheits­hauptamt, wie man auf der Seite der Topographie des Terrors nachlesen kann.

Heute sind von den 1948 abgerissenen Gebäuden, deren Reste später direkt hinter der Mauer verschwanden, nur noch ehemalige Zellen im Kellertrakt zu sehen. Ich erinnere mich noch deutlich an die wilde Brache an der Mauer, durch die zeitweilig mit Harrys Autodrom ein Verkehrsübungsplatz führte. Erst zu IBA-Zeiten 1987 setzte sich eine Bürgerinitiative für die Errichtung einer Gedenkstätte ein, keineswegs die hohe Politik. Die Episode Zumthor-Treppenhäuser hat allerdings das Projekt wiederum mehrere Jahre in Verzug gebracht. Die Ausstellung in dem neuen Flachbau, der mich architektonisch in seiner Schlichtheit an die Neue Nationalgalerie erinnert, wurde erst 2010 eröffnet.

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Doch zurück zur Besucherführung. Ich mochte sehr, dass unser Guide (der Begriff Führer bekommt da doch einen ganz anderen Klang, oder?) anhand einzelner Fotos tiefer ins Thema eingestiegen ist. Wonach sehen diese Männer der Gestapo-Stelle Flensburg 1935 aus? Ja, nach einem Karnevalsklub auf Sommerausflug. Ein inoffizielles Foto. Die kleinen, kecken Spaßhütchen auf dem Kopf, Waldhintergrund.

Entscheidend ist: Alle Männer sind mittelalt, vor 1900 geboren. Die meisten kamen von der Polizei, durchaus auch von der Grenzpolizei. Man kannte sich, sah die Gelegenheit noch einmal Karriere zu machen (wenn man schon den 1. Weltkrieg überlebt hatte). Oder wurde beschmeichelt, einfach weil das Wissen um die deutsch-dänische Grenze wichtig war. Da ging auch die eine oder andere linke Gesinnung oder SPD-Mitgliedschaft schnell dahin und wurde ausgetauscht. Ach ja, und nach dem Krieg verschwand der eine oder andere temporär, um später ganz unauffälig wieder aufzutauchen und seinen Berufsweg recht ungehindert weiterzugehen. Polizei-Experten waren auch beim Aufbau eines Nachkriegsdeutschlands gesucht.

Ich erinnerte mich an mein Entsetzen, als ich mit einer Freundin vor vielen Jahren in der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz war: Wie wenige der Beteiligten für die von ihnen geplanten und ausgeführten Verbrechen zur Rechenschaft gezogen und verurteilt wurden. Wie viele untergetaucht, aber auch wieder aufgetaucht waren – siehe oben. Nach dem gleichen Prinzip ist das auch in der Topographie des Terrors aufgedröselt: Eine Reihe von Fotos, unter denen Funktion und Werdegang der Abgebildeten notiert sind. Auch hier wieder die Fragen an uns Besucher: Was sehen Sie auf diesen Fotos? Was sind das für Männer?

Verbindendes Merkmal der beinah ausnahmslos mit markiger Heldenmine auf offiziellen Portraits Abgebildeten: Alle, bis auf einen Einzigen, sind junge Männer. Akademiker, viele Juristen, die in ihrem antisemitischen Umfeld an den Universitäten politisiert und Mitglieder von SA, SS und NSDAP wurden. Denen die Mitgliedschaft beispielsweise in der SS nach dem Examen eine schnelle Karriere versprach. Die zunächst ausschließlich Schreibtischtäter waren, sich in den besetzten Gebieten im Osten Europas und im Krieg dann, nun ja, in der Praxis bei den Massenmorden „bewährten“.

Als Beispiel haben wir uns den Weg von Erich Ehrlinger angeschaut, der unter anderem im Baltikum, in Belarus und Russland für Massenmorde verantwortlich war. Auch da, eine fast lässige Selbstverständlichkeit, mit der er nach dem Krieg zunächst untertauchte, unter falschem Namen zurückkehrte, und anschließend unter eigenem Namen wieder in Süddeutschland lebte. Immerhin ist er spät, aber dennoch vor Gericht gestellt worden. Er musste jedoch nur eine relativ kurze Zeit in Haft verbringen, kam 1965 frei. Ende 1968 wurde das Verfahren wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Er starb 2004. Gerecht? Gerecht ist das alles nicht.

Andererseits war ich durch den Film von Margarethe von Trotta über Hannah Arendt animiert, erneut über all das nachzudenken. Der Film beleuchtet die Zeit des Eichmann-Prozesses in Israel, den Hannah Arendt als Berichterstatterin für die New York Times verfolgte. Die echten, dokumentarischen Bilder vom Prozess sind in den Film eingebunden.

Man sieht Hannah Arendt beim Fernsehen im Pressezentrum des Gerichts zu und denkt sich bei Eichmann: So eine Wurst. Was für eine miese, kleine, berechnende Wurst. Aber großartig geschauspielert. Dann die Schrecksekunde. Nein, das ist nicht geschauspielert, das ist original. Die Zurschaustellung des Prinzips Ich? Ich bin doch nicht verantwortlich. Ich war doch nur kleiner Befehlsausführender. Und da ist es wieder, das Mitmachen-und-Profitieren-aber-bloß-nicht-Verantwortung-Übernehmen-Wollen. Eine wohl zu jeder Zeit angesagte Haltung.

Überhaupt mochte ich den Film gern anschauen. Ich gucke gern Menschen beim Denken und Reden zu, zumal wenn sie so viel Gescheites und Kontroverses zu sagen haben. Zwei Stunden Film, bei denen ich nicht einmal auf die Uhr geschaut habe, so spannend war es.

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Nun mag es so wirken, als hätten wir in den eineinhalb Stunden in der Ausstellung nur punktuell hingeschaut. Klar, eine geplante Stunde Rundgang ist viel zu wenig, um System und Struktur eines komplexen Terrorsystems zu verstehen. Aber ganz so punktuell war es keineswegs, denn Strukturen, Knoten und Vernetzungen sind in der Ausstellung gut und übersichtlich dargestellt. Insgesamt werden da inhaltlich dicke Bretter gebohrt, die selbst mir als Mitglied der Generation Nachnachkriegskind mit entsprechender schulischer Aufarbeitung nicht bis in den letzten Winkel geläufig sind. Auch ich, durch meinen erhellenden Geschichtsunterricht in der Oberstufe und mit meinem anhaltenden Interesse bestens präpariert, habe einiges Neues erfahren. Wie komplex muss das alles auf jemand wirken, der gerade mal ein paar Tage in Berlin zu Besuch ist?

Heute, und nicht allein im Themenjahr 2013 zur Zerstörten Vielfalt, 80 Jahre nach der Machtübernahme der Nazis, liegt der Fokus auf der Rolle der Einzelnen in der Gesellschaft, die die Machtübernahme ermöglichten. Das wird in den Fragestellungen in den ersten Bereichen der Ausstellung kenntlich: Warum wehrte sich die rote Stadt Berlin nicht gegen die Nazis, die dort zunächst keine Mehrheit hatten? Wo waren die Gewerkschaften, die linken Parteien? Die Gewerkschaften und Parteien waren in Windeseile mit Inhaftierungen, Folter, Morden und großer Brutalität zerschlagen worden. Der Polizei wurden Gestapo-Mitarbeiter, häufig fix aufgewertete Nazi-Laien, für die wahrhaft schlagkräftige Unterstützung an die Seite gestellt.

Es wurde ein Polizeisystem etabliert, das sich direkt aus der Führerschaft Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten legitimierte und deshalb nicht der Durchsetzung von Recht und Gesetz auf Basis einer geltenden Verfassung verpflichtet war. Aha. Da wurde einfach die Legitimationsgrundlage umgebogen und schon war alles geregelt. Ich erinnere mich gern daran, dass heute aus gutem Grund das Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz gilt.

Es werden auch die Demütigungen und die offene Brutalität gezeigt – Menschen, die wegen vermeintlicher „Vergehen“ an den Pranger gestellt und beschuldigt wurden. Wie nicht anders zu erwarten ist gerade auch der hintere Teil der Ausstellung voll mit schrecklichen Bildern, die ich anzusehen kaum aushalte. Der Einsatz von Fotos, Filmen und inszenierten Bildern aller Art zeigt, welch moderner PR-Mittel sich das Regime sofort bediente. Bildwirkung toppt Inhalt. Immer und sowieso.

Ich denke also über meine eigene Profession nach. Aus PR-Gründen war die Dokumentation von öffentlicher Demütigung und Gewalt erwünscht. Man wollte abschrecken und das gelang auch. Damals hieß das zu Propapagandazwecken und bestimmt nicht dinglish PR. Da guckt man fachbezogen auch heute gleich genauer hin.

Und zwar genau so entsetzt-fasziniert, wie ich war, als ich das dokumentarische Fernsehspiel Die Wannseekonferenz von Heinz Schirk aus dem Jahr 1984 im Fernsehen sah. Dietrich Mattausch als alerter Reinhard Heydrich, Robert Atzorn und Jochen Busse in jungen Jahren sind in diesem Kammerspiel unter anderem dabei. Jede der Figuren, bis hin zur untergeordneten Sekretärin, ist stark gezeichnet und gespielt. Sicher auch, weil man weiß, dass das Drehbuch nach dem einzigen Protokoll dieser Konferenz, die nach außen nicht stattgefunden haben sollte, geschrieben ist.

Die Wannseekonferenz ist ein Musterbeispiel für Projektsteuerung, sagte eine Kollegin einmal. Sie hat Recht. Masterplan, Einzelmaßnahmen, sogar eine Tafel zum Anfertigen einer analogen Powerpoint-Präsentation gibt es. Zunächst das zähe Feilschen, dann die Zuordnung einzelner Ziele an Verantwortliche. Wer muss welche Stückzahlen wohin transportieren? Nicht Panzer, nicht Getreidesäcke, sondern Juden. Entmenschlichung durch Bürokratie. Zum Zuschauen. Da malt man die eigene Projektskizze in die nächste Präsentation doch ganz anders hinein und pflegt Zeitschienen, Budgets und Maßnahmen mit Unbehagen ins eigene Excel-Sheet ein.

So, und warum nun dieser längliche Besinnungsaufsatz? Nein, nicht um Sie, werte Weltöffentlichkeit, mit meinen Elaboraten zu traktieren. Das können Fachleute besser. Sondern um mich wieder einmal neu zu verorten, zu prüfen, nachzujustieren: Wo gilt es, sich zu verhalten. Wo gilt es, nicht mitzuschwimmen, sondern den Mund aufzumachen oder zu handeln. Gelegenheiten dazu gibt es genug.

Wenn Sie bis hierhin durchgehalten haben und selbst mitdenken mögen – fein. Links zum Weiterlesen sind genügend eingestreut. Wenn nicht, ist es zwar nicht so schön, stört meinen Denkprozess aber auch nicht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.